Unsere innere Welt
Äußerlich gesehen leben wir alle in derselben Welt. Aber was wir von dieser Welt wahrnehmen, wie wir das Wahrgenommene bewerten, welche Gefühle dabei in uns entstehen und wie wir uns verhalten – das ist bei jedem etwas anders. Insofern lebt jeder in seiner eigenen Welt, in seiner inneren Erlebniswelt.
Schauen wir uns ein Beispiel an:
Peter und Oskar arbeiten in ihrem Beruf gemeinsam an einem Projekt. Nach Abschluss der Arbeiten werden sie zu ihrem Chef gerufen, der ihre Ergebnisse beurteilt. Einiges lobt er, mit anderem ist er nicht so zufrieden.
Ein Außenstehender könnte vermuten, beide Mitarbeiter hören genau dasselbe und müssten auch auf dieselbe Art reagieren. Es kommt jedoch ganz anders: Oskar, ein Optimist, achtet vor allem auf die Passagen in der Rede seines Chefs, die Zufriedenheit und Lob ausdrücken. Tadel und Kritik galten seiner Meinung nach nur einigen unbedeutenden Nebenaspekten, und er hat sie schnell wieder vergessen. Er fühlt sich ziemlich bestätigt, und seine Stimmung steigt.
Peter dagegen, ein Pessimist, hat ganz andere Gedanken: Gewiss, über einiges hat er sich nicht unzufrieden gezeigt. Aber das hat er wahrscheinlich nur gesagt, damit die Kritik nicht zu vernichtend ausfällt. Im Grunde fand er doch alles, worauf es wirklich ankam, schlecht. Wieder einmal macht er seiner Meinung nach die Erfahrung, dass er letzten Endes ein Versager ist. Er fühlt sich niedergeschlagen und erschöpft.
Zu unserer inneren Welt gehört nicht nur, wie wir bestimmte Ereignisse oder Situationen wahrnehmen und bewerten, sondern auch unsere Grundüberzeugungen, Lebensphilosophie, religiöse und moralische Vorstellungen, unsere Erinnerungen und Hoffnungen, unsere Auffassungen darüber, worauf es im Leben ankommt, was für uns wichtig ist, was wir erreichen möchten.
Ein Teil unserer inneren Welt ist uns klar bewusst, und wir kennen uns gut darin aus. Andere Anteile sind eher unklar, sogar unbewusst oder wir wollen sie gar nicht wahrnehmen.
- z.B. Unklarheit über Gefühle: Manchmal spüren wir vielleicht ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit, wir sind „irgendwie“ unglücklich, etwas fehlt uns, wir haben schlechte Laune. Oder wir fragen uns: Ist es jetzt Liebe, was ich für eine bestimmte Person empfinde? Oder Sympathie, Zuneigung, Wohlwollen? Oder Verliebtsein? Oder Gier und Habenwollen? Oder von jedem etwas?
- z.B. Unklarheit über grundlegende Wertvorstellungen, Lebensregeln, Einstellungen: Wenn wir geübte Autofahrer oder Klavierspieler sind, dann kommt es häufig vor, dass wir unsere Beine, Arme und Finger sehr zielgerichtet und effektiv bewegen, ohne dass uns dies noch bewusst wird. Die Bewegungen laufen automatisch ab. Ähnlich kann es auch mit unseren Grundüberzeugungen gehen: Manche sind uns so selbstverständlich geworden, dass wir gar nicht mehr wissen, wie stark wir uns von ihnen leiten lassen, und auch nicht mehr überprüfen, ob sie im Alltag hilfreich sind.
Einige Beispiele: Alle sollen mich mögen. – Man darf sich nie etwas gefallen lassen. – Man muss immer Rücksicht nehmen. – Eine gute Mutter ist nicht berufstätig. – Der Wert eines Menschen hängt von seiner Leistungsfähigkeit ab. – Um Hilfe bitten ist Schwäche, Schwäche ist schlecht. – Den meisten Menschen kann man nicht vertrauen. – Das Leben soll Spaß machen.
- Unklarheit über Zusammenhänge: Häufiger ist der Fall, dass wir belastende Gefühle deutlich spüren, aber nicht so recht wissen, mit welchen Bewertungen diese Gefühle zusammenhängen. Nehmen wir an, Sie werden wütend, wenn Ihr Kind sein Zimmer nicht aufräumt. Das Gefühl der Wut ist Ihnen ganz deutlich. Aber womit hängt es zusammen?
- Vielleicht machen Sie sich Sorgen um Ihr Kind, weil Sie denken, wer äußerlich keine Ordnung halten kann, der wird auch innerlich verwahrlosen.
- Vielleicht sehen Sie die Unordnung als Beweis dafür an, dass Sie als Erziehungsperson versagt haben.
- Vielleicht finden Sie, dass Aufräumen und Ordnung halten sehr wichtig ist, oder Sie ärgern sich, weil das Aufräumen nun wieder an Ihnen hängen bleibt.
- Unklarheit, weil bestimmte Gebiete der inneren Welt gemieden werden: Manche Ereignisse und auch manches in uns selbst mögen wir gar nicht gern. Vielleicht passt es nicht in unser Bild von der Welt oder von uns selbst. Oder es ist lästig, peinlich, unangenehm. Dann kann es sein, dass wir versuchen, die Augen davor zu (ver-)schließen, es innerlich wegzuschieben. Wir wollen es nicht wahrhaben. Das gelingt uns gelegentlich so gut, dass wir selbst nicht mehr wissen, dass wir uns etwas vormachen.
Beispiele:
- Wir haben einen Konkurrenten im Berufsleben überflügelt und sehen, dass er darüber deprimiert ist. Aufkommende Gefühle von Mitleid schieben wir weg, weil wir ein harter Karrieretyp sein wollen. Oder aufkommende Triumphgefühle schieben wir weg, weil wir gerne ein durch und durch sozialer, mitfühlender Mensch wären.
- Wenn es Probleme gibt, geben wir anderen die Alleinschuld daran und versuchen, nicht daran zu denken, welche Fehler wir selbst gemacht haben.
- Wir vermeiden, uns klarzumachen, wie viel wir unseren Eltern verdanken und wie viel Sorgen wir ihnen bereitet haben, weil wir uns dann vielleicht weniger großartig vorkämen.
- Wir vermeiden schwierige Aufgaben und Herausforderungen, damit wir nicht mit unseren Grenzen und unserem Scheitern konfrontiert werden.
- Wir können es uns nicht eingestehen, dass wir uns bei der Wahl unseres Ehepartners geirrt haben. Eine Scheidung würden wir irgendwie als Versagen empfinden.
Dieses Nicht-wahrhaben-Wollen (Abwehrmechanismen) kann manchmal auch hilfreich sein. Es schütz uns vor zu starken Belastungen. Wenn bei uns zum Beispiel eine schwere Krankheit festgestellt wird, kann es günstig sein, wenn wir uns nicht sofort über alle Aspekte dieser Krankheit informieren, sondern uns eine Zeitlang etwas vormachen (vielleicht hat der Arzt sich getäuscht; vielleicht verläuft es bei mir ganz harmlos) oder uns ablenken.
Vielen Menschen ist es nicht bewusst, dass ihre INNERE Erlebniswelt nicht dasselbe ist wie die ÄUßERE Welt. Sie sind überzeugt: Meine Art, die Dinge zu sehen, ist die einzig mögliche oder richtige. Meine Sicht der Realität ist die Realität.
Dies führt nicht nur zu Unverständnis und Intoleranz zwischen den Menschen, sondern wie wir noch sehen werden – auch zu seelischen Problemen.